Sicht auf den Giglio Porto von der Fähre

Giglio - Die schönsten Kinder der Toskana

Tages Anzeiger, 26.05.2004, Von Dominik Ruisinger

Giglio Porto Fast zu gross wirkt die Fähre für den kleinen Hafen von Giglio. Die Insel der Lilie ist beliebt dank ihres artenreichen Meeres und ihrer wilden Macchia. Die Inselchen im Umkreis von Elba sind naturbelassen und von den Massen verschont. Jede hat ihren ganz eigenen Reiz.

Mächtig wirkt sie, die weisse Fähre im kleinen Hafen. Mit riesigem Maul, aus dem die Autos herausquellen. So weit aufgerissen, als wolle sie den Pier auffressen. Als Letzter verlässt der Kapitän sein Schiff. Ein Gruss zum Hafenpolizisten: «Ciao, trinken wir einen Caffè?» Die beiden verschwinden in der kleinen Hafenbar Da Rosa. Alltag in Giglio Porto.

Giglio ist eines der «schönsten Kinder der Toscana», wie die sieben Inseln des toscanischen Archipels im Volksmund heissen. Der Legende nach sollen sich Capraia, Elba, Giannutri, Giglio, Gorgona, Pianosa und Montecristo aus dem Diadem der tyrrhenischen Venus gelöst haben, als diese dem Meer entstieg. Heute bilden sie den grössten Meerespark Europas, der sich von Livorno bis zur Halbinsel Monte Argentario die Küste hinabzieht. Nicht alle Inseln sind für Besucher offen, insbesondere seitdem sie unter Naturschutz stehen. Und neben Elba verfügt nur Giglio über eine touristische Infrastruktur.

Schmuck – aber nicht herausgeputzt

Viele Italiener halten Giglio, die Insel der Lilie, für die schönste Insel des Landes. Taucher und Schwimmer schätzen sie wegen des kristallklaren, smaragdgrünen Wassers und der artenreichen Meeresgründe, Treckingtouristen wegen der einsamen Wanderwege durch die wilde Macchia.

Kein Hafen des Archipels bietet einen malerischeren Anblick. Niedrige, zartfarbene Häuser schmiegen sich dicht gedrängt um die Mole. Dahinter steht ein gewaltiger Berg, grün bewachsen, über den am Morgen oft der Nebel einfällt. Schmuck ist der Ort, ohne herausgeputzt zu wirken. Auf der Promenade tummeln sich Besucher vor den Restaurants und Bars, vor den Jachten der Reichen und den Holzbooten der Fischer. Fähren legen ab, Schlauchboote fahren Badende in einsame Buchten, Taucher zu Unterwasserrevieren. Möwen kreisen schreiend über dem Fang eines Fischers.

Alte Eselswege, verwinkelte Gassen

Nur wenige Schritte vom touristischen Zentrum entfernt beginnt das urwüchsige Giglio. Uralte Eselswege führen quer durch Felder und Flussläufe, vorbei an Granitfelsen, die zu kleinen Buchten abstürzen. Nur der Ferienort Campese mit seinem langen Sandstrand und den vielen Tauchschulen passt nicht ins träumerische Bild. Auch in den verwinkelten Gassen des 400 Meter hoch gelegenen Bergdorfes Castello verlieren sich nur wenige Besucher. Wie eine Festung wirkt der mittelalterliche Ort mit Torbögen und steinernen Aussentreppen. Kaum ein Sonnenstrahl dringt in das Gassengewirr innerhalb der mächtigen Stadtmauern.

Tief unter uns schlägt das aufgewühlte Meer gegen die Felsen. In der Ferne ein winziger Felsbrocken: Giannutri.

Dort, auf der kleinen sichelförmigen Schwester Giglios, hat der Mensch die Natur noch nicht in Besitz genommen. Nur einige terracottafarbene Villen und Ferienhäuser liegen auf der überwiegend privaten Insel versteckt. Die einzigen Besucher sind Tagesausflügler, die sich in kleinen Felsbuchten sonnen, zu Grotten absteigen, die Ruinen einer herrschaftlichen Römervilla bewundern oder sich auf Trampelpfaden durch die fast undurchdringliche mediterrane Flora schlagen. Überall ist Möwengekreisch zu hören.

Wilde Romantik ganz im Süden

Von Giglio aus sind klar die Umrisse des Monte Argentario, des Silberbergs, zu sehen. Die wildromantische Halbinsel am südlichsten Zipfel der Toscana war vom Meer umgeben, bis angeschwemmter Sand sie schliesslich mit dem Festland verband. Die drei schmalen Dämme bilden zusammen mit einer stillen Lagune und dem einstigen Etruskerhafen Orbetello einen malerischen Anblick. Liessen sich an der Nordseite reiche Italiener nieder, blieb die Südflanke ein geschütztes Naturreservat mit Pinienwäldern, einsamen Dünen und kilometerlangen Sandstränden.

Von hier aus windet sich eine Panoramastrasse um das grüne Vorgebirge. Der Duft von Pinien, Zypressen und Eukalyptus erfüllt die Luft, die Farben der Landschaft verwöhnen die Augen: Gelb für Ginster, Lila für Bougainvillea, Weiss und Rosa für Oleander. In der Tiefe glitzert türkisblau das Meer, Fischerboote ziehen ihre Bahnen, kleine Sandbuchten verführen zum Sprung ins Meer. Nur der Zugang ist schwierig, da die Felsen steil abfallen und Zugänge oft in Privatbesitz sind.

Das Refugium der Oberschicht

Privat ist das Stichwort. Der Monte Argentario ist fest in der Hand der italienischen Oberschicht, deren Sommerresidenzen sich in den Hängen verbergen. Kein Wunder: Rom, Florenz, Pisa liegen nur 150 Kilometer entfernt. Insbesondere das kleine Festungsstädtchen Porto Ercole, wo 1610 der Maler Caravaggio starb, haben viele VIPs zum Reiseziel erkoren. Der Silberberg wurde zum teuren Pflaster. Massentourismus mit Feriensiedlungen und Campingplätzen gibt es nicht.

Der Luxus ist unsichtbar. Auch im sympathischen Porto San Stefano. Häuser in blassen Rosa-, Beige-, Ockertönen, kleine Boutiquen und Eisdielen staffeln sich an der langen Uferpromenade. Dahinter schiebt sich der Ort terrassenförmig den Hügel hinauf. Lebendig geht es hier zu, vor allem rund um die beiden Häfen. Einer ist für Jachten und schnittige Motorboote da, der andere für Fähren und Fischerboote.

Abends, in einem Restaurant am Hafen, serviert der Kellner marinierten Meeraal, eine hiesige Spezialität. Noch vor wenigen Stunden haben alte Kutter angelegt, Schwert- und Tintenfische, Barsche oder Rochen wurden an Land gehievt. Wie jeden Tag. Gerade legt die letzte Fähre nach Giglio ab, als die versinkende Sonne den Ort endgültig in die Nacht begleitet.

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